Ein Beitrag von Lea Bungardt und Ian Nadge
Lia Beckers Beitrag “Der Horizont eines sozialen Antifaschismus”, erschienen in der letzten Ausgabe der LuXemburg, hat in der linken Debatte einiges an Resonanz erzeugt. Ihr Versuch, antifaschistische Politik sozial zu fundieren, ist ohne Zweifel notwendig – doch er scheitert an den selbstgesetzten Grenzen linker Realpolitik. Becker bleibt in einem strategischen Rahmen gefangen, der dem Parlamentarismus verpflichtet ist, ohne die systemische Vergesellschaftung als strukturelle Voraussetzung autoritärer Tendenzen ernsthaft in Frage zu stellen. So verliert sich ihr Text in moralischen Appellen, während der autoritäre Krisencharakter des gegenwärtigen Systems analytisch unterbelichtet bleibt – und strategisch folgenlos …
Faschisierung als Staatsprogramm – von oben
Zutreffend beschreibt Becker den autoritären Umbau, der sich tief in den gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen festsetzt. Faschisierung erscheint nicht mehr im Gewand des historischen Faschismus, sondern tritt als “wehrhafte Demokratie” auf: in Abschiebekampagnen, Wehrpflichtdebatten und schwarz-rot-goldenem Dauerpatriotismus. Der autoritäre Umbau des Staats kommt nicht von unten – sondern von oben: mit Paragrafen, Polizeiuniformen und Staatstrojaner.
Doch genau hier beginnt das Problem: Die autoritäre Formierung wird zwar benannt, aber nicht in ihrem ökonomischen Grundverhältnis verankert. Der Kapitalismus erscheint bei Becker nur als diffuses Hintergrundrauschen – nicht als die treibende Kraft hinter Repression, Ausschluss und nationalistischer Mobilisierung.
Faschismus ist kein Betriebsunfall
Die größte Schwäche von Beckers Ansatz liegt in der analytischen Trennung von Faschisierung und kapitalistischer Krisendynamik. Zwar erkennt sie, dass soziale Verunsicherung rechten Narrativen Vorschub leistet – aber sie bleibt stehen bei psychologisierenden oder sozialpädagogischen Deutungen. Dass Faschismus eine strukturelle, systemimmanente Reaktionsform bürgerlicher Herrschaft auf ihre eigene Krise darstellt, bleibt unausgesprochen. Faschismus ist eben kein Rückfall, sondern Modernisierung im Modus der Repression.
Wie Nicos Poulantzas schrieb:
“Der Faschismus stellt eine spezifische Form des autoritären Staates dar, der auf die Krise der kapitalistischen Reproduktion antwortet – indem er die Massen unter Kontrolle bringt, ohne den Klassencharakter des Staates aufzugeben.”
Kein deutsches Wintermärchen, sondern globale Krisenstrategie
Die autoritäre Transformation ist kein deutsches Spezifikum. Weltweit reagieren kapitalistische Staaten auf den drohenden Legitimationsverlust ihrer Ordnung mit Repression, Disziplinierung und nationaler Mobilisierung. In den USA kulminiert dies im Trumpismus; in Lateinamerika im autoritären Neoliberalismus à la Bukele. In Russland zeigt sich ein autoritärer Kapitalismus im offenen Ausnahmezustand, während in Indien unter Modi ethnonationalistische Mobilisierung zur Herrschaftssicherung dient. Diese Phänomene sind keine Ausreißer – sie markieren eine globale Phase autoritärer Krisenbewältigung. Der autoritäre Staatsumbau ist nicht der Bruch mit dem Kapitalismus – er ist seine Fortsetzung mit repressiven Mitteln.
Der blinde Fleck: Eigentum
Hier offenbart sich ein ernsthafter blinder Fleck des “sozialen Antifaschismus”: Becker bleibt auf der Ebene moralischer Appelle, symbolischer Politik und institutioneller Wünsche stehen. Die Eigentumsverhältnisse, auf denen systemische Herrschaft beruht, bleiben unangetastet. Wer Antifaschismus ernst meint, muss aber begreifen: Ohne Bruch keine Veränderung.
“Das System macht keine Fehler – das System ist der Fehler.” (Peter Paul Zahn)
Reformvorschläge wie Arbeitszeitverkürzung, Gemeinwohlökonomie oder Investitionen in Care-Infrastrukturen sind legitim – doch eingebettet in die Hoffnung auf progressive Regierungsbündnisse, bleiben sie ohne jegliche Potenz. Ohne Infragestellung systemischer Eigentumslogik wird jeder “soziale Antifaschismus” zur moralisch verbrämten Verwaltung der Misere.
“Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einer Alternative: entweder Übergang zum Sozialismus – oder Rückfall in die Barbarei.” (Rosa Luxemburg)
Feminismus zum Mitnehmen – Care ohne Analyse
Becker greift Care-Arbeit exemplarisch für feministische Politik auf – doch gerade dabei ist das Fehlen einer feministischen Perspektive augenfällig, die die konkreten Auswirkungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse auf Care-Arbeit ernsthaft analysiert. Die massive Überlastung vieler Frauen in Care-Situationen lässt kaum Raum für politische Selbstorganisierung – ihre Anliegen bleiben dadurch oft unsichtbar.
Gerade deshalb müsste ein politischer Text wie der von Becker diese Realität ins Zentrum rücken, anstatt sie nur am Rand der Debatte zu streifen. Zwar wird Geschlechterpolitik kurz angerissen, doch eine vertiefende Analyse bleibt aus. Die strukturellen Belastungen, denen Frauen in Lebensgemeinschaften im neoliberalen Kapitalismus ausgesetzt sind, werden nicht sichtbar gemacht. Besonders Frauen in Care-Situationen tragen eine doppelte Last aus Erwerbsarbeit und unbezahlter Reproduktionsarbeit – eine Belastung, die sich durch Sozialabbau und die Krise der Kindertagesstätten, verursacht durch jahrelange politische Versäumnisse, weiter verschärft.
Konkrete politische Perspektiven, wie diese strukturelle Marginalisierung von Frauen in Care-Situationen und die daraus resultierende Erschöpfung, Zerrissenheit und Frustration überwunden werden könnten, sucht man im Text vergeblich. Notwendig wären etwa massive Investitionen in öffentlich finanzierte Kinderbetreuung oder eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Auch Vorschläge wie Gutscheine für Haushaltshilfen – die insbesondere Alleinerziehende und Familien mit mehreren Kindern spürbar entlasten würden – wurden nie ernsthaft verfolgt.
Angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks und der drohenden Wiedereinführung traditioneller Familienbilder – etwa durch Maßnahmen wie die „freiwillige“ Erhöhung der Arbeitszeit auf 42 Stunden im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) – wiegt dieses Versäumnis besonders schwer.
Auch eine intersektionale Perspektive fehlt: Die strukturellen Belastungen und Ausschlüsse, denen insbesondere Alleinerziehende, Migrantinnen und Frauen mit Behinderungen ausgesetzt sind, bleiben unerwähnt – obwohl gerade diese Gruppen in besonderem Maße von sozialer Ungleichheit, Armut und Marginalisierung betroffen sind. Eine linke Strategie, die diese Realitäten ausblendet, bleibt unvollständig. Ihre Lebensrealitäten müssen zentraler Bestandteil jeder sozialistischen Analyse, Debatte und Politik sein.
Hegemonie ohne Basis
Beckers Ruf nach Hegemonie klingt wie Gramsci – bleibt aber letztendlich eine leere Floskel. Denn Hegemonie meint nicht sprachliche Vorherrschaft, sondern die Fähigkeit, durch reale Kämpfe den Alltagsverstand zu verändern. Wer das ignoriert und stattdessen auf progressive Mittelschichten und Regierungsfähigkeit setzt, ersetzt Praxis durch Rhetorik.
“Jede Revolution ist … ein Prozess der Hegemoniebildung.” (Antonio Gramsci)
Doch dieser Prozess muss materiell verankert sein – in konkreten Konflikten zwischen oben und unten. Sonst verkommt dieser zum reinen Schein von Strategie.
Widerspruch zwischen Sprache und Potenzlosigkeit
Ein deutlicher Widerspruch von Beckers Text liegt in der Diskrepanz zwischen radikaler Sprache und potenzloser Strategien. Begriffe wie Transformation, konkrete Utopie oder soziale Hegemonie evozieren Tiefe, die der Text aber nicht einlösen kann. Antifaschismus erscheint hier als moralischer Imperativ – nicht als politisches Projekt mit transformativer Substanz.
Faschismus ist keine Meinung – er ist Krisentechnologie. Wer ihn bekämpfen will, muss die materiellen Bedingungen angreifen, die ihn erzeugen.
Sozialpädagogik statt Klassenanalyse
Beckers Konzept eines “sozialen Antifaschismus” verfehlt die Systemfrage. Statt Kapitalismusanalyse gibt es Sozialpädagogik. Statt radikaler Perspektive: Appellpolitik. Faschismus erscheint einfach als Reaktion auf Exklusionserfahrungen – nicht als strukturierte Krisenantwort des Kapitals.
Der materialistische Antifaschismus hingegen setzt genau hier an: Er begreift den Prozess der fortschreitenden Faschisierung als Option bürgerlicher Herrschaft, wenn die Demokratie ihre Integrationskraft verliert. Nicht Integration ist dann das Ziel – sondern autoritäre Stabilisierung der Ausbeutungsverhältnisse. Antifaschismus wird so zur antikapitalistischen Praxis, die auf Vergesellschaftung, Klassenmacht und revolutionäre Umwälzung zielt.
Faschismus als Betriebsunfall
Der zentrale Unterschied zwischen materialistischem und Beckers “sozialem” Antifaschismus liegt im Verhältnis zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Während Becker Faschisierung als Reaktion auf soziale Verwerfungen und politische Ausgrenzung begreift – also als moralisch verfehlte oder unzureichende Sozialpolitik –, setzt der materialistische Antifaschismus bei den strukturellen Bedingungen bürgerlicher Herrschaft an. Er versteht Faschismus nicht als ideologische Entgleisung, sondern als autoritär-reaktionäre Krisenstrategie des Kapitals, mit der in Phasen akuter Legitimationsverluste der bürgerlichen Demokratie die Herrschaft über die subalternen Klassen reorganisiert wird – durch Repression, Nationalismus und Mobilisierung von Gewalt von oben.
Materialistischer Antifaschismus ist demnach keine zivilgesellschaftliche Abwehrhaltung, sondern im Gegenteil eine Radikale Praxis, die Faschismus als notwendiges Produkt kapitalistischer Krisendynamiken erkennt – und ihm nur durch die Abschaffung seiner gesellschaftlichen Grundlage, der kapitalistischen Produktionsweise, begegnen kann. Er analysiert Faschismus als politischen Ausnahmezustand der bürgerlichen Klasse: Wenn die Demokratie ihre Funktion verliert, soziale Konflikte zu integrieren, wird autoritäre Formierung zur Option – nicht zum Betriebsunfall. Wie Walter Benjamin schrieb:
“Der Ausnahmezustand ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.”
Beckers Konzept bleibt hingegen staatszentriert: Es appelliert an die demokratische Ordnung, gerechter zu agieren, ohne deren strukturelle Klassenfunktion zu hinterfragen. Für sie ist Antifaschismus die Verteidigung demokratischer Institutionen gegen rechte Bedrohungen – für den materialistischen Antifaschismus ist er der Bruch mit eben jenen Institutionen, wenn sie zur autoritären Repression übergehen. Beckers “sozialer Antifaschismus” will die Demokratie gegen den Faschismus verteidigen; der materialistische Antifaschismus weiß, dass die bürgerliche Demokratie selbst unter bestimmten historischen Bedingungen in faschistische oder protofaschistische Formen übergeht – ohne ihren Klassencharakter aufzugeben. Antifaschismus wird dadurch nicht zur Verteidigung des Bestehenden, sondern zur radikalen Strategie seiner Überwindung.
Fazit: Linke Sprache, liberale Strategie
Beckers Beitrag ist ein gut gemeinter, aber letztlich illusionsgetränkter Versuch, die Linke koalitionsfähig zu machen. Ihr Konzept eines „sozialen Antifaschismus“ bleibt in den Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft verhaftet: Faschismus erscheint als moralisches Versagen, nicht als autoritäre Krisenstrategie der kapitalistischen Ordnung. Der Kapitalismus wird nicht angegriffen – er wird vorausgesetzt.
Doch wer Antifaschismus ernst meint, darf sich nicht mit Haltung begnügen. Es braucht Handlung. Organisation. Bruch.
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
(Karl Marx)
Solange linke Politik auf moralische Appelle und symbolische Reformversprechen reduziert wird, bleibt sie kompatibel – und damit politisch folgenlos. Nur ein Antifaschismus, der Eigentum und Staat konfrontiert, kann die Verhältnisse durchbrechen, statt sie bloß zu kritisieren.
Was tun – Für einen materialistischen Antifaschismus der Praxis
Ein materialistischer Antifaschismus darf nicht bei Analyse stehenbleiben – er muss in Organisierung münden. Der autoritäre Staatsumbau lässt sich letztendlich nicht durch Appelle an die Vernunft oder bessere Gesetzesvorschläge aufhalten, sondern nur durch den Aufbau machtvoller Gegenkräfte von unten. Was es braucht, sind breite, kämpferische soziale Bewegungen, die Klasseninteressen sichtbar machen und konfrontativ auf die Straße bringen – gegen Aufrüstung, gegen Teuerung, gegen autoritäre Formierung. Die Kämpfe gegen Militarismus, Klimazerstörung, Sozialabbau, patriarchale Ausbeutung und rassistische Migrationspolitik sind keine Einzelfelder – sie sind Ausdruck ein- und derselben systemischen Krisenverwaltung.
- Ein radikaler Antifaschismus muss an den richtigen Orten ansetzen: in Betriebsgruppen gegen Kriegsproduktion, in Mieter*innenkämpfen gegen kapitalistische Stadtentwicklung, in Care-Streiks gegen Ausbeutung reproduktiver Arbeit, in Basisinitiativen gegen staatliche Repression.
- Die Frage der politischen Organisierung muss neu gestellt werden: Wollen wir die Linkspartei in eine Massenpartei unserer Klasse transformieren – nicht als Stellvertreterin, sondern als kollektive Organisatorin realer Kämpfe? Eine Partei, die international denkt, sich mit Bewegungen weltweit verbindet und die nationale Sackgassen verlässt? Eine Partei, die sich nicht an Regierungsfähigkeit misst, sondern an ihrer Fähigkeit, Kämpfe zu bündeln, Konflikte zuzuspitzen, Machtverhältnisse zu verschieben? Dann braucht es eine radikale Neuausrichtung – eine Partei, die nicht verwaltet, sondern organisiert.
- Was es braucht, ist ein praktischer Antifaschismus des massenhaften Protests – der soziale Forderungen mit konkretem Widerstand verbindet. Gegen Abschiebungen. Gegen Wohnungsnot. Gegen Reallohnverluste und Aufrüstung. Antifaschismus darf kein Spezialthema bleiben – er muss Klassenkampf von unten werden.
- Mögliche Bündnispartner*innen gibt es viele: kämpferische Gewerkschafter*innen, radikale Klima- und Mieter*innenbewegungen, feministische und antirassistische Initiativen, antimilitaristische Netzwerke, revolutionäre Organisationen – sofern sie bereit sind, den Schritt von der symbolischen Kritik zur praktischen Konfrontation zu gehen.
- Nicht die Koalitionsfähigkeit zur Regierung entscheidet – sondern die Fähigkeit, den gesellschaftlichen Normalbetrieb zu stören.
- Wer Antifaschismus ernst nimmt, muss ihn gegen das Ganze richten: gegen das System, den Staat und den Krieg. Denn der Feind steht nicht nur rechts – er steht vor allem oben.
Ein Beitrag von Lea Bungardt und Ian Nadge
Die Meinungen in diesem Beitrag, sind allein die der Autor*innen, und müssen nicht die Ansichten der AKL-NDS darstellen.

