Nie wieder Kritik

Wie die Antideutschen die Linke zum Schweigen brachten

Manchmal sind es nicht die größten politischen Akteure, die den größten Schaden anrichten, sondern die kleinsten Diskurse. Während in Gaza die Ruinen noch rauchen und in Israel ein brüchiger Friedensprozess am Horizont flackert, herrscht in der deutschen Linken vor allem eines: Sprachlosigkeit – nicht aus Desinteresse, sondern aus Angst. Angst, das Falsche zu sagen, das Falsche zu denken, überhaupt noch etwas sagen zu dürfen.

Diese Angst hat eine Geschichte und einen Namen: die antideutsche Ideologie. Sie hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine erstaunliche Metamorphose vollzogen – von einer zunächst unbedeutenden innerlinken Strömung zu einer moralischen Instanz, die das Sprechen über Israel und Palästina reguliert wie ein Zensor mit Promotionsurkunde.

Gerade jetzt, in einem Moment, in dem internationale Solidarität wieder politisch werden müsste, zeigt sich, wie tief der antideutsche Diskurs die Linke gelähmt hat. Statt den imperialistischen Charakter des Nahostkonflikts zu analysieren, debattiert man über Wortwahl. Statt Klassenverhältnisse, Kolonialismus und Kapitalismus zu thematisieren, pflegt man die rituelle Selbstvergewisserung deutscher Läuterung.

Doch Geschichte verlangt Entscheidungen. Eine Linke, die im Angesicht der Zerstörung schweigt, weil sie Angst hat, „missverstanden“ zu werden, verrät ihre eigene Tradition. Darum ist jetzt der Moment, über die Antideutschen zu sprechen – nicht aus alter Fehde, sondern weil sie symptomatisch sind für das, was aus der Linken geworden ist: eine moralische Instanz ohne revolutionäre Praxis, ein Diskurs ohne Analyse der Macht.

Was heißt hier eigentlich „antideutsch“?

Die sogenannten Antideutschen sind eine relativ kleine Strömung innerhalb der deutschen Linken, die sich in den frühen 1990er-Jahren herausbildete – als Reaktion auf nationalistische Tendenzen in Teilen der Linken nach der Wiedervereinigung und den Golfkrieg von 1991. Ihr ursprüngliches Anliegen war die radikale Kritik am deutschen Nationalismus und die Einsicht, dass Antisemitismus in der Linken selbst reproduziert werden kann.

Im Laufe der Jahre entwickelte sich daraus jedoch ein eigenständiger ideologischer Komplex: eine Mischung aus unbedingter Solidarität mit dem Staat Israel, tiefer Skepsis gegenüber jeder Form antiimperialistischer oder antiwestlicher Politik und der Ersetzung von Kapitalismuskritik durch moralische Kategorien.

Ein frühes Zitat aus der antideutschen Publikation Bahamas illustriert diese Haltung:

„Wer Israel kritisiert, muss sich darüber im Klaren sein, dass er die Shoah relativiert.“¹

In der Praxis bedeutet das: Jede linke Kritik an israelischer Regierungspolitik, an Siedlungsprojekten oder militärischem Vorgehen wird reflexhaft als Ausdruck eines „deutschen Schuldabwehr-Antisemitismus“ interpretiert. Die Folge ist eine diskursive Disziplinierung: Linke Debatte wird zur moralischen Prüfung, Solidarität zur Loyalitätserklärung.

So entstanden – vor allem in Hochschulgruppen, Magazinen wie Bahamas oder Jungle World und linken Publikationen – ganze Diskursräume, in denen Begriffe wie „Imperialismus“, „Kolonialismus“ oder „Kapitalismus“ als verdächtig galten, weil sie zu viel Welt und zu wenig Deutschland enthielten.

In diesem Sinne lassen sich die Antideutschen als Symptom einer Linken lesen, die den moralischen Universalismus über die materialistische Analyse gestellt hat: Sie bekämpft nicht die Produktionsverhältnisse, sondern die Gesinnungen ihrer Kritiker*innen.

Von „Nie wieder Faschismus“ zu „Nie wieder Kritik an Israel“

Die Antideutschen haben ein Kunststück vollbracht – ein ideologisches, kein politisches: Sie haben die Parole „Nie wieder Faschismus!“ umcodiert in „Nie wieder Kritik an Israel!“.²

Das Ergebnis: ein linkes Diskursfeld, in dem moralische Verdächtigung den Platz der politischen Analyse eingenommen hat. Während Marx forderte, die „kalte Welt des Geldes“ zu kritisieren, fordern die Antideutschen, jede Kritik an westlichen Verbündeten zu unterlassen – aus Angst, sie könne in „deutsche Schuldabwehr“ kippen.³

Dass die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (2021) ausdrücklich festhält, dass Kritik an der israelischen Regierungspolitik nicht per se antisemitisch ist,⁴ wird dabei elegant ignoriert – vermutlich, weil Differenzierung den Betrieb stören würde.

Schuld als deutsches Kapital

Was der deutsche Imperialismus in der Ökonomie kann, können die Antideutschen in der Moral: Schuld akkumulieren. Ihre Stärke liegt nicht in der Analyse, sondern in der Selbstgeißelung – das deutsche Schuldmanagement als ethische Rendite.

Wie Kapital sich durch Verwertung vermehrt, vermehrt sich Schuld durch Bekenntnis. Die Shoah wird aus der Geschichte herausgelöst und in die deutsche DNA eingeschrieben – als moralischer Freifahrtschein zur Verteidigung jeder israelischen Regierungspolitik, egal wie brutal, egal wie kolonial.⁵

Das Ergebnis ist eine Art „linke Bekenntniskirche“, die nicht durch revolutionäre Praxis, sondern durch die liturgische Wiederholung der eigenen Läuterung existiert. Der deutsche Antifaschismus wurde protestantisch.

Doch hier endet die Diskurslogik nicht. Wer die Schuld zur Hauptwährung macht, der übersieht, dass Staaten selbst nie moralische Subjekte sind. Die Antideutschen fixieren ihre Aufmerksamkeit auf Israel als „moralisches Korrektiv“ der deutschen Geschichte – und übersehen dabei, dass der Staat Israel nicht aus Buße, sondern aus Machtinteresse entstanden ist. Gleichzeitig projiziert die BRD ihre eigene historische Schuld auf diesen Staat, um sich selbst als geläutert zu inszenieren. Dieses Zusammenspiel aus moralischer Projektion und geopolitischem Kalkül wird zur ideologischen Falle, in der linke Analyse unmöglich wird.

Der Staat als ideologisches Subjekt: Israel und die BRD

Dass die Antideutschen den Staat Israel zur notwendigen Entschuldigung für die Shoah erklären, ist kein Zufall – es ist Ausdruck der deutschen Staatsideologie selbst. In der Figur des „geläuterten Deutschlands“, das durch unbedingte Solidarität mit Israel Buße tut, erscheint der bürgerliche Staat als moralisches Subjekt, das Geschichte aufarbeitet, anstatt Klassenherrschaft zu reproduzieren.

Die BRD instrumentalisiert Israel, um ihre eigene historische Kontinuität zu verschleiern: vom NS-Wirtschaftsapparat zur westdeutschen Exportnation, vom Antisemitismus der Vernichtung zum Philosemitismus der Staatsräson. Die Parole „Deutschlands Verantwortung für Israel“ ist weniger moralische Einsicht als imperiale Strategie – sie erlaubt, sich als zivilisatorisches Subjekt des Westens zu inszenieren, während deutsche Rüstungskonzerne Waffen an die israelische Armee liefern und dieselben Panzer später an autoritäre Regime exportieren.

Israel wiederum ist kein „Projekt der Buße“, sondern ein Staatsprojekt im Kapitalismus – entstanden im Kontext der kolonialen Neuordnung des Nahen Ostens nach 1945. Die Unterstützung durch die westlichen Mächte war nie rein moralisch, sondern geostrategisch motiviert: Israel fungierte als Vorposten westlicher Hegemonie in einer rohstoffreichen Region, als militärischer und politischer Puffer gegen die arabischen Nationalbewegungen. Der Zionismus der Gründer*innen war realer Ausdruck jüdischen Überlebenswillens – doch der Staat Israel wurde im Kapitalismus zu einem Akteur, der selbst Teil der imperialistischen Weltordnung wurde.

Damit erfüllt Israel im globalen System dieselbe Funktion, die die BRD im europäischen Kontext einnimmt: Stabilisierung westlicher Machtverhältnisse durch moralische Selbstrechtfertigung.

Die Antideutschen verkennen diesen Zusammenhang vollständig. Sie verabsolutieren den Staat Israel zur historischen Notwendigkeit, und zwar ausgerechnet in dem Moment, in dem sie behaupten, den Antisemitismus zu bekämpfen. Die Gleichsetzung von „Existenz Israels“ mit dem „Fortbestehen des Judentums“ – wie sie faktisch in der IHRA-Definition mitschwingt und von antideutscher Seite affirmiert wird – ist selbst ein antisemitischer Kurzschluss: Sie reduziert jüdisches Leben auf staatliche Existenz, als könne ein Volk nur durch militärische Staatsmacht überleben.

Keine Bevölkerung ist wirklich sicher, wenn ihre Sicherheit auf Waffen, Mauern und Dauerkrieg beruht. „Sicherheit“ in einem imperialistischen System bedeutet immer: Unsicherheit für andere. Israel ist, in diesem Sinne, nicht der Schutzraum der Jüdinnen und Juden, sondern der militärische Ausdruck einer kolonialen Weltordnung, die ihre eigene Gewalt moralisch legitimiert.

Die BRD projiziert ihre eigene historische Schuld auf diesen Staat, um selbst „rein“ zu erscheinen. Das erklärt die hysterische Reaktion deutscher Politik und Medien auf jede Kritik an Israel: Nicht der Schutz jüdischen Lebens steht im Zentrum, sondern die Stabilisierung der deutschen Läuterungsidentität.

Kurz gesagt: Der Antisemitismus der Vergangenheit wird durch den Philosemitismus der Gegenwart verwaltet – beide sind Produkte desselben bürgerlichen Staates, der Geschichte nur kennt, um sie zu neutralisieren.

Diskursmacht ohne Basis

Oder: Wie man mit 300 Leuten und 30 Kolumnen die Hegemonie erobert.

Rein numerisch betrachtet sind die Antideutschen ein winziger Zirkel. Politisch aber sind sie eine Großmacht. Ihre Strategie: moralische Disziplinierung durch Diskursbesetzung.

Ein paar Zeitschriften, eine Handvoll Lehrstühle, ein Dutzend Talkshow-Stammgäste – genug, um den Israel-Diskurs der Linken zu kolonisieren. NGOs und Feuilletons übernehmen bereitwillig die Rhetorik der Antideutschen, die aus der Verurteilung des Antisemitismus eine Religion der Loyalität gemacht haben.⁶

Wer widerspricht, wird nicht als Dissident, sondern als Ketzer behandelt. Dabei gilt der alte Satz Lenins: „Ohne revolutionäre Theorie kann es keine revolutionäre Bewegung geben.“⁷ Nur dass Theorie hier längst durch Moral ersetzt wurde.

Schweigen über Gaza – und das gute Gewissen dabei

Gerade jetzt, da ein möglicher Friedensprozess zwischen Israel und Palästina zaghaft aufblitzt, wäre der Moment gekommen, über das Leid in Gaza zu sprechen: über die Zehntausenden Toten, die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur, die Menschen, die in Ruinen hungern.

Doch im deutschen Diskurs herrscht Schweigen – nicht trotz, sondern wegen der moralischen Empörung. Dieses Schweigen ist kein Zufall, sondern System: Wer das Leid der Palästinenser*innen thematisiert, gefährdet die nationale Selbstvergewisserung. Die Antideutschen haben diese Dynamik perfektioniert – sie liefern die moralische Rechtfertigung für politische Sprachlosigkeit.⁸

Dabei wäre der wahre Antifaschismus ein anderer: nicht die blinde Verteidigung eines Staates, sondern die kompromisslose Solidarität mit den Unterdrückten. Frantz Fanon schrieb:
„Kolonialismus ist Gewalt in ihrer reinsten Form – und er wird nur durch größere Gewalt gestürzt.“⁹

Die Antideutschen hingegen glauben, Kolonialismus könne durch Debattenkultur geheilt werden.

Linke Moralapostel, Feuilleton-Pazifisten und NGO-Kosmetik

Man kennt sie: jene progressiven NGO-Stimmen, die in jedem dritten Satz „Solidarität“ sagen – und beim vierten das Thema wechseln. Oder die Feuilleton-Linken, die jedes Wochenende über „Antisemitismus in der Postmoderne“ schreiben, aber noch nie das Wort „Siedlungspolitik“ gegoogelt haben.

Diese Allianz aus linkem Moralismus und akademischer Angst ist die eigentliche Machtbasis der Antideutschen. Sie regiert nicht durch Argument, sondern durch schlechtes Gewissen. Wer sich nicht anpasst, wird zum „strukturellen Antisemiten“ erklärt – die deutsche Variante des „Feindes des Volkes“.¹⁰

  1. Schluss: Gegen die Moral der Schuld – für die Politik der Befreiung

Die Antideutschen sind das Symptom einer Linken, die ihre historische Aufgabe vergessen hat. Sie haben den Internationalismus geopfert, um das eigene Gewissen zu retten. Aus Klassenkampf wurde Kulturkampf, aus Analyse Ablasshandel.

Doch eine Linke, die über Gaza nicht sprechen kann, ohne sich selbst zu zensieren, ist keine Linke mehr, sondern nur noch ein Feuilleton mit politischem Anstrich.

Antisemitismus zu bekämpfen heißt, seine gesellschaftliche Grundlage zu zerstören – den Kapitalismus, der ihn immer wieder hervorbringt. Nicht Kritik zu verbieten, sondern die Kritik der Kritik zurückzugewinnen.

„Nie wieder Kritik“ – das ist die Formel einer Linken, die verlernt hat, Geschichte zu machen. Zeit, sie zu brechen.

Fußnoten

  1. Bahamas 22 (1999): „Israelkritik und deutsche Verantwortung“.
  2. Füller, M. (2018): Die Antideutschen und die deutsche Linke, Berlin: Edition Tiamat.
  3. Marx, K. (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1.
  4. Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (2021).
  5. Schröder, C. (2015): Moralische Imperative in der deutschen Linken, Hamburg: Argument Verlag.
  6. Adorno, T.W. (1966): Negative Dialektik, Frankfurt: Suhrkamp.
  7. Lenin, W.I. (1902): Was tun?, LW 5.
  8. Human Rights Watch (2023): Gaza: 16 Jahre Blockade und ihre Folgen.
  9. Fanon, F. (1961): Die Verdammten dieser Erde, Hamburg: Rowohlt.
  10. Füller (2018), S. 127

Autor: Ian Nadge

Hinweis: Dieser Beitrag stellt die Meinung der Autor*in dar und muss nicht mit den Positionen der AKL Niedersachsen übereinstimmen.

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