Warum Klartext heute subversiver ist als jede Wohlfühlrhetorik
Ein Beitrag von Ian Nadge, nach einer Idee von Johanna Brauer
In der Netflix-Serie Pick-me Girl werfen sich Figuren mit einer solchen Hingabe selbst unter den Bus, solange die Aufmerksamkeit anderer auf sie gerichtet bleibt. Da vergisst man schon mal, dass es sich um Fiktion handelt. Die Serie liefert ein popkulturelles Sinnbild für das, was man in Teilen der Linken inzwischen als alltägliche Praxis beobachten kann: politische Selbstverleugnung im Namen der Anschlussfähigkeit.
Wer heute linke Talkshow-Prominenz werden will, weiß längst: Nicht die Analyse, nicht der Klassenbezug, nicht die radikale Kritik bringt einen ins Abendprogramm – sondern die Fähigkeit, die eigene Überzeugung kunstvoll so weit zu zerreiben, dass sie niemanden mehr stört. Ein bisschen Marx, aber bitte nur als „früher Demokrat“; ein bisschen Enteignung, aber nur als „disruptive Eigentumsinnovation“; ein bisschen Revolution, aber in veganem Leder und klimaneutral.
Kurz: Willkommen in der Ära der politischen Pick-me Girls und Pick-me Boys – jene, die sich selbst, ihre Inhalte und jede historische Konsequenz unter den Bus werfen, in der Hoffnung, dafür wenigstens freundlich im NDR angelächelt zu werden.
Zum Wortgebrauch
Sind Begriffe wie „Enteignung“ und „Sozialismus“ verbrannt? Oder sind es manche Linke, die diese Begriffe lieber selbst einäschern, bevor eine Springer-Kolumnist*in wieder Schnappatmung bekommt?
Marx notierte einmal, dass die herrschende Klasse ihre Ideen als allgemeine Ideen ausgibt – doch heute scheinen manche Linke diese Aufgabe selbst übernehmen zu wollen, indem sie den eigenen Vokabular-Bestand auf das vorauseilend Erlaubte beschränken.1
Es ist nicht der Sozialismus, der verbrannt ist – es ist die politische Zündschnur, die manche aus Angst vor Funkenflug lieber herausreißen.
Angst vor Sprache unterminiert politische Klarheit
Euphemismen sind das Streusalz des politischen Diskurses: Sie machen alles rutschig, damit niemand aus Versehen aufrecht stehen bleibt. Wenn aus „Ausschaltung kapitalistischer Kontrolle“ plötzlich ein „Dialogformat über Eigentumsformen“ wird, dann hat man nicht nur die Wahrheit, sondern auch die Arbeiter*innenklasse beleidigt.
Rosa Luxemburg wusste: „Wer sich einmal auf die Bahn der Verwischung der Gegensätze begibt, verliert jede revolutionäre Kraft.“2
Die psychologischen Folgen der heutigen Sprachvermeidungsstrategien sind bekannt: Unsicherheit, Konfliktangst und ein politischer Habitus, der eher an Yogastudio-Newsletter erinnert als an klassenkämpferische Organisierung.
Misstrauen gegenüber dem Verstand der Arbeiter*innen
Hinter der sprachlichen Selbstverharmlosung steckt eine stillschweigende – und zutiefst reaktionäre – Annahme: die Leute seien nicht in der Lage, radikale Begriffe zu verstehen. Eine Art sympathisch verpackter Elitismus, der behauptet, Arbeiterinnen bräuchten „sanftere Worte“, sonst würden sie aus Versehen Faschistinnen werden.
Dabei schrieb Marx explizit von der Fähigkeit der Arbeiter*innen, sich durch Kampf und Bildung selbst zu einem revolutionären Subjekt zu formen.3
Der Sozialismus ist kein akademisches Escape-Room-Spiel – er ist eine Einladung zur kollektiven Selbstermächtigung. Wer klare Begriffe scheut, misstraut dem Volk und vertraut dem Feuilleton.
Sozialismus als breit zugängliche Idee
Historisch war der Sozialismus erfolgreich, weil er verständlich war und weil er Klasseninteressen benennen konnte, nicht weil er sich semantisch tarnte.
Von der Pariser Kommune bis zu den revolutionären Räten 1917/18 war radikale Sprache nie ein Hindernis – sie war der Motor der Massenmobilisierung.
Gramsci warnte vor einer Intellektualität, die sich selbst zur Elite erhebt und den Kontakt zur „national-populären“ Sprache verliert.4
Die heutige akademisierte Linkssprache hingegen funktioniert wie ein Passwortsystem: Wer es nicht kennt, bleibt draußen. Ironisch, wenn man bedenkt, dass Sozialismus einmal die radikalste Inklusionsbewegung überhaupt war.
Herablassung schadet der Politik
Der paternalistische Ton, mit dem manche Linke versuchen, politische Inhalte „niederschwellig“ aufzubereiten, ist nichts anderes als die bürgerliche Herablassung, die sie vorgeben zu bekämpfen.
Ein Pick-me-Habitus, der ständig sagt: „Wir wollen niemanden überfordern!“
Luxemburg hätte dazu wahrscheinlich angemerkt, dass eine Linke, die sich selbst für harmlos erklärt, politisch auch harmlos wird.5
Wer sich klein macht, um zu gefallen, wird politisch irrelevant: ein sprachlicher Fußabtreter unter der Eingangsmatte des politischen Establishments.
Selbstvertrauen und klare Ansprache aktivieren
Menschen ernst zu nehmen heißt, ihnen die Wahrheit zuzumuten – nicht sie vor ihr zu schützen.
Politische Wirksamkeit entsteht nicht durch linguistische Wattebäusche, sondern durch strategische Klarheit.
Eine Linke, die wieder kämpfen will, braucht keine wohltemperierte Anpassung, sondern die Fähigkeit, Konflikte bewusst und offen auszutragen.
Oder, wie Lenin es ausdrückte: „Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Bewegung.“6
Das gilt auch sprachlich.
Strategische Konsequenz
Die logische Schlussfolgerung ist so klar wie unbequem:
Weniger Anpassung – mehr Haltung.
Weniger Sprachdesign – mehr politische Schärfe.
Wenn Sozialismus wieder Einladung statt Lifestyle-Marke werden soll, dann muss er laut, verständlich und unmissverständlich auftreten.
Eine Bewegung, die ihre Inhalte weichspült, wird von der Geschichte ausgespült.
Fazit
Political correctness ist nicht das Problem – aber ihre degenerierte Form, die jede radikale Schärfe in Selbstverleugnung verwandelt, ist es.
Wenn linke Begriffe zu vorsichtigen Kompromisshülsen werden, dann bleibt vom Sozialismus nur noch ein dekoratives Etikett übrig.
Deshalb gilt: Sozialismus klar, laut und ohne apologetische Fußnoten vertreten.
Netflix mag unterhalten, aber Revolutionen entstehen nicht aus Selbstoptimierungsprozessen.
Was wir brauchen, ist Mut, Konfliktbereitschaft – und die Fähigkeit, die wirklich unnötigen Phrasen endlich unter den Bus zu werfen.
Zum Beispiel:
„Wir wollen niemanden verschrecken.“
„Wir müssen unsere Sprache anpassen.“
„Wir meinen das gar nicht so radikal.“
Doch wir meinen es radikal!!! Denn sonst lohnt es sich nicht.
Fußnoten
- Karl Marx: Die deutsche Ideologie (1845/46), insbesondere das Kapitel über die herrschenden Ideen
- Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution? (1899).
- Karl Marx: Das Kommunistische Manifest (1848), insbesondere Kapitel 1 über die Herausbildung des Proletariats als Subjekt.
- Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Notizheft 11 („Über die national-populäre Sprache“)
- Rosa Luxemburg: Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906).
- W. I. Lenin: Was tun? (1902).

