Alle zusammen: Enteignen, Enteignen und Enteignen

Eigentum – das gute Gewissen der Besitzenden

Eigentum bedeutet Macht – so viel ist klar. Wer Häuser, Fabriken oder Energienetze kontrolliert, kontrolliert nicht nur das Leben anderer, sondern auch das eigene gute Gewissen gleich mit dazu. Und Ausgerechnet der Begriff, der diese Macht in Frage stellt, ist fast verschwunden; wer sich wohl dabei etwas Böses denkt? „Enteignung“ – einst ein Klassiker linker Sprache – heute so bedrohlich wie ein geplatzter Staubsaugerbeutel im Regierungsviertel.

Wer früher Enteignung forderte, riskierte Skandale, Debatten, Schlagzeilen. Heute genügt ein abstrakt scheinendes Wort wie „Vergesellschaftung“, und alles klingt nach Dialog statt Konflikt.

“Vergesellschaftung” mag abstrakt klingen, doch konkret gewinnt sie erst dort Bedeutung, wo sie als Ergebnis realer Enteignung verstanden wird. Ohne Enteignung bleibt Vergesellschaftung eine leere Verwaltungsformel – ein Versuch, gesellschaftliche Machtverhältnisse zu sozialisieren, ohne sie tatsächlich zu verschieben. Erst die Enteignung der Eigentumsverhältnisse öffnet den Raum, in dem Vergesellschaftung überhaupt ihren Inhalt bekommt: kollektive Verfügung über das, was zuvor privat angeeignet war.

Eigentum bleibt Eigentum, Macht bleibt Macht – und das „Wohl der Allgemeinheit“ ein Lippenbekenntnis. Wer das Wort “Enteignung” meidet, meidet den Konflikt – und überlässt dem Kapitalismus sein tägliches Geschäft der subtilen Enteignung von unten.¹

Juristisches Verständnis – das freundliche Wort mit Entschädigung

Artikel 14 des Grundgesetzes erlaubt dem Staat, Eigentum im „Wohl der Allgemeinheit“ zu enteignen – gegen Entschädigung, versteht sich.² In der Praxis betrifft das aber bis jetzt nur Straßen, Bahntrassen, Stromleitungen: technische, nicht soziale Fragen. Das juristische Konzept bleibt damit ein Instrument der Verwaltung, nicht der Machtverschiebung.

Der berühmte Satz „Eigentum verpflichtet“³ klingt großartig, ist aber ein zahnloser Tiger ohne Krankenversicherung. In der Realität verpflichtet Eigentum nicht zum Gemeinwohl, sondern zum Profit. So wird der Artikel 14 GG zur moralischen Beruhigungspille – eine juristische Konstruktion, die Besitzenden das gute Gefühl verschafft, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen.

Wer „Vergesellschaftung“ sagt, bekommt Applaus, wer dagegen „Enteignung“ sagt, ruft sofort die Hüter*innen des Rechts auf den Plan. Der Unterschied ist nicht nur juristisch, sondern auch ideologisch: Er entscheidet darüber, ob Eigentum als unantastbar oder als politisch veränderbar gilt.⁴

Vom Kampfbegriff zum Tabuwort

„Enteignung“ war einmal ein Angriff auf die Eigentumsordnung selbst – ein Wort, das Klassenverhältnisse sichtbar machte. Heute wird es ersetzt durch „Vergesellschaftung“, „Demokratisierung“ oder „öffentliche Verantwortung“. Sprache ist Macht: Wer den Konflikt aus dem Wort verbannt, entpolitisiert ihn.⁵

Das Ergebnis: Die Eigentumsfrage verschwindet hinter technokratischen Formeln. Aus der Machtfrage wird eine Verwaltungsfrage, aus der Enteignung eine „Reformoption“. Der Kapitalismus hat gelernt, Kritik zu neutralisieren – durch Sprache. Was bleibt, ist eine Linke, die lieber über „faire Heizkostenabrechnungen“ spricht als über Eigentum.

Doch wie Marx festhielt, ist jede gesellschaftliche Form des Eigentums Ausdruck eines bestimmten Klassenverhältnisses.⁶ Wenn dieses Verhältnis nicht mehr benannt wird, bleibt es unangetastet.

Die Linke und die Glaubwürdigkeit

Wo früher über Enteignung gesprochen wurde, heißt es heute „Rekommunalisierung“. Wo früher die Eigentumsfrage gestellt wurde, redet man über „Verbraucherschutz“. Das ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer politischen Anpassung an die Verwertungslogik.

Die Debatte um Deutsche Wohnen & Co enteignen zeigt das Dilemma exemplarisch: Das juristische Ziel – Vergesellschaftung nach Art. 15 GG – bleibt in der Logik des bürgerlichen Rechts gefangen. Die Forderung wird so zu einem Appell an die Institutionen, die sie eigentlich überwinden wollte.⁷

Diese strategische Entschärfung unterminiert die Glaubwürdigkeit der Linken. Denn wer die Eigentumsfrage nicht mehr stellt, akzeptiert stillschweigend die kapitalistische Antwort.

Die Debatte um Deutsche Wohnen & Co enteignen zeigt das Dilemma exemplarisch: Das juristische Ziel – Vergesellschaftung nach Art. 15 GG – bleibt in der Logik des bürgerlichen Rechts gefangen. Die Forderung wird so zu einem Appell an die Institutionen, die sie eigentlich überwinden wollte.⁷

Diese strategische Entschärfung unterminiert die Glaubwürdigkeit der Linken. Denn wer die Eigentumsfrage nicht mehr stellt, akzeptiert stillschweigend die kapitalistische Antwort.

Die ökonomische Realität – Enteignung läuft schon längst

Ironischerweise ist Enteignung im Kapitalismus längst Alltag – nur andersherum. Marx beschrieb in der „ursprünglichen Akkumulation“ den Prozess, durch den Kapital entsteht: die Trennung der Produzent*innen von ihren Produktionsmitteln.⁸ Diese Bewegung ist keine historische Episode, sondern der Grundmodus kapitalistischer Entwicklung.

David Harvey nannte das „accumulation by dispossession“ – Aneignung durch Enteignung.⁹ Kapitalismus funktioniert durch ständige Umverteilung von unten nach oben:

  • Lohnarbeit: Enteignung des Mehrwerts. Der Lohn ist nur die Form, in der die Ausbeutung unsichtbar gemacht wird.¹⁰
  • Mietmärkte: Wer kein Eigentum besitzt, zahlt dafür, dass andere an seiner Existenz verdienen.¹¹
  • Privatisierungen: Was öffentlich war, wird verkauft – und die Gesellschaft bezahlt doppelt: mit Steuern und mit Gebühren.¹²
  • Digitale Plattformen: Daten werden zum Privateigentum. Nutzer*innen produzieren Wert, Konzerne eignen ihn an.¹³

Rosa Luxemburg erkannte früh, dass der Kapitalismus ständig neue Räume schaffen muss, um sich selbst zu erhalten – indem er Nicht-Kapitalistisches enteignet.¹⁴ Die moderne Finanzialisierung ist nichts anderes als die Fortsetzung dieses Prozesses mit neuen Mitteln.

Während also die Linke das Wort Enteignung scheut, führen BlackRock, Vonovia und Amazon sie täglich aus – global, legal und effizient. Das Tabu schützt nicht die Gesellschaft, sondern das Eigentum.

Politische Implikationen

Enteignung lässt sich heute auf drei Ebenen denken:

  1. Reformistisch: Als Rekommunalisierung oder gesetzlich geregelte Vergesellschaftung. Nötig, aber begrenzt – weil sie die Eigentumsordnung selbst nicht antastet.
  2. Bewegungspolitisch: Als Wiederaneignung der Sprache. Wenn Initiativen das Wort „Enteignung“ offensiv besetzen, brechen sie das ideologische Tabu und verschieben den Diskurs.
  3. Revolutionär: Als Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln – also der Übergang von der kapitalistischen zur gemeinschaftlichen Verfügung über die gesellschaftlichen Ressourcen.¹⁵

Nur wer diese Ebenen zusammendenkt, kann die Eigentumsfrage als Klassenfrage begreifen. Denn Enteignung ist nicht nur ein juristisches Verfahren, sondern auch und vor allem ein politischer Akt: die bewusste Umkehr der alltäglichen kapitalistischen Enteignung.

Schluss – Enteignung als Kampf um Sprache und Macht

Schluss – Enteignung als Kampf um Sprache und Macht
„Die Expropriateure müssen expropriiert werden“, schrieb Marx.¹⁶ Nicht aus moralischer Empörung, sondern weil die kapitalistische Akkumulation selbst auf Enteignung beruht. Die alltägliche Enteignung durch das Kapital kann nur beendet werden, wenn das Kapital selbst enteignet wird – wenn also die private Verfügung über die Produktionsmittel durch die kollektive, gesellschaftliche ersetzt wird. Solange Kapital als gesellschaftliche Macht über Arbeit existiert, reproduziert sich Enteignung endlos: in jedem Lohnzettel, jeder Miete, jedem Kredit. Erst die Enteignung des Kapitals beendet den Kreislauf, in dem die Vielen enteignet werden, damit die Wenigen besitzen können.

Jede Eigentumsordnung ist ein Verhältnis von Gewalt – nur im Kapitalismus erscheint diese Gewalt als Freiheit. Darum ist die Rückkehr des Begriffs „Enteignung“ keine Nostalgie, sondern ein Akt politischer Selbstverteidigung. Wer ihn wieder benutzt, benennt das Undenkbare: dass Eigentum nicht heilig, sondern politisch ist. Demokratie endet dort, wo Eigentum beginnt.

Die Wiederaneignung des Begriffs ist also mehr als Semantik. Sie ist die Rückkehr der Klassenfrage – als Entscheidung darüber, wem die Welt gehört, die wir alle gemeinsam schaffen.

beginnt.

Anmerkungen

  1. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, MEW 23, Berlin 1962, S. 742 ff.
  2. Art. 14 Abs. 3 GG; vgl. Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, München 2021, Art. 14 Rn. 214 ff.
  3. Art. 14 Abs. 2 GG.
  4. Vgl. Wolfgang Abendroth, Gesellschaft, Staat und Recht im Wandel der Geschichte, Frankfurt a.M. 1966.
  5. Vgl. Pierre Bourdieu, Sprache und symbolische Macht, Frankfurt a.M. 1991.
  6. Marx, Das Kapital, MEW 25, S. 790.
  7. Vgl. Johanna Kusiak, Berlin is not for Sale: The Making of a Social City, London 2024.
  8. Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 741–791 („Die sog. ursprüngliche Akkumulation“).
  9. David Harvey, The New Imperialism, Oxford 2003, S. 137 ff.
  10. Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 556 ff.
  11. Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, MEW 18, S. 209 ff.
  12. Vgl. Werner Rügemer, Privatisierung in Deutschland, Köln 2008.
  13. Vgl. Shoshana Zuboff, The Age of Surveillance Capitalism, New York 2019.
  14. Rosa Luxemburg, Die Akkumulation des Kapitals, Berlin 1913, S. 329 ff.
  15. Vgl. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, MEW 21, S. 168 ff.
  16. Marx, Das Kapital, MEW 23, S. 791.

Autor: Ian Nadge

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind ausdrücklich nur die des Autoren und müssen nicht notwendigerweise die Meinungen der AKL-NDS widerspiegeln.

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