Am 17. Oktober ist der internationale Tag zur Bekämpfung der Armut. Wie charmant, möchte man ironisch anmerken, dass wir einmal im Jahr offiziell daran erinnert werden, dass Millionen Menschen in Deutschland in materieller Not leben, während der Rest des Landes brav konsumiert und applaudiert. In Deutschland leben aktuell rund 13 Millionen Menschen an oder unter der Armutsgrenze – etwa jede:r Sechste. Darunter sind über drei Millionen Kinder, viele Rentnerinnen, Alleinerziehende und Langzeiterwerbslose. Ein Publikum, das auf den Sonntagsreden der Politik fast nie sichtbar wird.
Armut ist nicht das Ergebnis individueller Versäumnisse, sondern strukturell in einem System verankert, das Profite über Menschen stellt. Die Prekarisierung der Arbeit mit Leiharbeit, befristeten Verträgen und Minijobs verwandelt Lohnarbeit in ein Lotteriespiel, bei dem Verlieren einkalkuliert ist. Herzlichen Glückwunsch, Sie haben verloren – aber wenigstens gibt es ein Zertifikat fürs „Soziale Engagement“. Gleichzeitig wächst die Vermögensungleichheit unaufhörlich: Die reichsten zehn Prozent besitzen fast sechzig Prozent des Gesamtvermögens, während Löhne und Sozialleistungen stagnieren. Grundbedürfnisse wie Wohnen, Energie, Bildung oder Gesundheit werden als Waren gehandelt; wer sie nicht bezahlen kann, bleibt ausgeschlossen. Die bürokratische Disziplinierung durch Hartz-IV-Sanktionen und komplizierte Antragsverfahren verleiht der Armut einen moralischen Makel. Man könnte fast sagen: Wer arm ist, ist automatisch auch ein schlechter Mensch – in den Augen des Systems.
Besonders betroffen von Armut sind Kinder, etwa 20 Prozent wachsen in armutsgefährdeten Haushalten auf, was ihre Bildungschancen strukturell einschränkt. Alleinerziehende, überwiegend Frauen, kommen trotz Vollzeitjobs kaum über die Runden. Rentner*innen leiden unter Niedrigrenten und steigenden Lebenshaltungskosten. Erwerbslose erfahren zusätzlich gesellschaftliche Stigmatisierung. Ironischerweise feiert die Politik Solidarität in Reden, während sie systematisch die Bedingungen schafft, die Armut perpetuieren.
Armut ist kein Unfall, sondern ein Feature des Kapitalismus. Die Profitlogik ordnet Ressourcen nach Rendite, nicht nach menschlichen Bedürfnissen. Wohnen wird zur Ware, Gesundheit zur Dienstleistung, Bildung zum Privileg. Politische Institutionen inszenieren moralische Entrüstung über Armut, während sie neoliberale Strukturen aufrechterhalten. Armut wird als individuelles Versagen dargestellt, nicht als Produkt materieller Verhältnisse. Ein bisschen wie Weihnachten im Hochsommer – nett dekoriert, aber völlig irrelevant.
Der Tag der Armut ist symbolisch: Er erinnert daran, dass Armut existiert, entpolitisiert sie aber gleichzeitig. Medienberichte fokussieren auf Einzelschicksale, nicht auf strukturelle Ursachen. Politische Initiativen bleiben meist symbolisch – Geldspenden, Awareness-Kampagnen, Sondersendungen. Wer wirklich etwas gegen Armut tun will, kann nicht bei Twitter posten oder ein Sammelalbum basteln.
Was wäre eine linksradikale Antwort? Sie verlangt radikale Veränderungen, nicht moralische Kosmetik. Wohnraum muss als öffentliches Gut betrachtet werden, große Immobilienkonzerne enteignet und städtische Wohnraumplanung demokratisiert werden. Reichtum muss progressiv besteuert, Umverteilung umgesetzt und soziale Leistungen kostenlos zur Verfügung gestellt werden – Bildung, Gesundheit und Nahverkehr für alle. Produktion muss demokratisch kontrolliert werden, durch Arbeiter*innenräte, Genossenschaften und soziale Planungsinstrumente. Globale Solidarität darf dabei nicht fehlen: Armut endet nicht an Landesgrenzen, Ausbeutung in Lieferketten und imperialistische Politik müssen Teil der Analyse sein. Kurz gesagt: Nicht moralisieren, nicht symbolisch gedenken – den Kapitalismus überwinden.
Der 17. Oktober ist damit nicht nur ein Datum im Kalender, sondern eine scharfe Erinnerung daran, dass Armut strukturell verankert ist und moralische Symbolpolitik sie nicht beseitigt. Ironisch gesagt: Wer wirklich „feiern“ möchte, sollte nicht Blumensträuße verteilen, sondern Banken übernehmen und Wohnraum vergesellschaften. Und am Tag der Armut darf man sich einmal kurz daran erinnern, dass Moral kein Brot ersetzt.
Autor: Ivan Neklid
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind ausdrüchlich die des Autoren und müssen nicht notwendigerweise die Meinungen der AKL-NDS widerspiegeln.

