Schlapphüte – Warum der Verfassungsschutz abgeschafft gehört

Manchmal schreibt die Geschichte kleine Satiren von selbst. Zum Beispiel, wenn ein Jan van Aken, Kovorsitzender Der Linken, die Informationen des Bundesamts für Verfassungsschutz völlig unreflektiert übernimmt, um innerparteiliche Gegner*innen anzugreifen. Anlass war ein Palästina‑Soli‑Fest im Kreisverband Berlin‑Neukölln – und van Aken drohte prompt mit Parteiausschlüssen, gestützt auf denselben Geheimdienst, der seit Jahrzehnten linke Bewegungen kriminalisiert.

Diese Anekdote wirft die naheliegende Frage auf: Was ist nun eigentlich die Aufgabe des Verfassungsschutzes? Dient er dem Schutz der Demokratie – oder der Absicherung neoliberaler und konservativer Herrschaftsstrukturen? Wenn selbst linke Politiker*innen dessen Einschätzungen nutzen, um innerparteiliche Disziplin durchzusetzen, liegt der Verdacht nahe: Der Verfassungsschutz ist vor allem ein Apparat zur Kontrolle gegen unten, während er nach rechts blind bleibt. Da braucht es keine Springer Presse – van Aken liefert das Narrativ gleich mit.

Klassencharakter: Staatsschutz als Kapitalschutz

Wer glaubt, der Verfassungsschutz diene „der Demokratie“, könnte genauso gut denken, McDonald’s sei ein Fürsprecher gesunder Ernährung. Bereits 1950 war seine Kernaufgabe, die kommunistische Bewegung zu bekämpfen – das KPD‑Verbot von 1956 war das Startsignal: Demokratie galt nur, solange sie nicht an der Eigentumsordnung rüttelte. Der Geheimdienst war nie neutral – er ist ein Instrument der herrschenden Klasse.

Historische Kontinuitäten: Nazis im Staatsdienst – und personelle Kontinuitäten

Historische Kontinuitäten: Nazis im Staatsdienst – und personelle Kontinuitäten

Der Verfassungsschutz entstand nach 1945 keineswegs als antifaschistisches Bollwerk, sondern oft mit direkter personeller und ideologischer Kontinuität aus der NS-Zeit. Ehemalige Gestapo- und NSDAP-Kader wurden in den Aufbau der neuen Geheimdienste eingebunden. Ein prominentes Beispiel ist Walter Odewald, ehemaliger SS-Obersturmbannführer, der nach Kriegsende in einem niedersächsischen Landesamt für Verfassungsschutz tätig war. Odewalds Karriere illustriert, wie viele Ex-NSDAP-Mitglieder den Aufbau des neuen Geheimdienstapparates maßgeblich mitprägten. Ihre Aufgabe war es nicht, demokratische Strukturen zu schützen, sondern staatliche Kontinuität und konservative Ordnungspolitik zu sichern [1].

Die strukturellen Folgen dieser personellen Kontinuitäten sind bis heute spürbar. Gruppen wie die Wehrsportgruppe Hoffmann konnten jahrelang ungestört agieren, während linke Studierenden- und Jugendklubs sofort als „gefährlich“ eingestuft und kriminalisiert wurden. Das Muster wiederholte sich bei vielen späteren rechten Netzwerken: Die Überwachung linkspolitischer Gruppen war systematisch, die Kontrolle rechter Gruppierungen häufig inkonsequent oder nachlässig.

Diese Kontinuitäten zeigen, dass der Verfassungsschutz von Anfang an politisch selektiv agierte. Nicht die objektive Gefährdung der Demokratie bestimmte sein Handeln, sondern die politische Orientierung der Betroffenen. Linke Bewegungen, Gewerkschafterinnen oder kritische Wissenschaftlerinnen wurden als Bedrohung für den Status quo identifiziert, während konservative oder rechte Akteure oft geschützt, toleriert oder aktiv unterstützt wurden.

Odewalds Rolle ist emblematisch: Ein Mann, der als SS-Obersturmbannführer Teil der NS-Repression war, konnte nach 1945 ungestört in den Staatsapparat wechseln. Diese personalhistorische Kontinuität veranschaulicht die Ideen- und Machtkontinuitäten, die bis heute den Apparat prägen. Sie stellt die Behauptung infrage, der Verfassungsschutz sei ein unabhängiges Organ, das demokratische Prinzipien verteidigt. Stattdessen wird deutlich: Die Institution ist historisch mit konservativen und rechten Interessen verzahnt, eine strukturelle Blindheit nach rechts ist daher kein Zufall, sondern systemisch.

In der Praxis bedeutet das, dass der Apparat nicht reformierbar erscheint, solange seine personellen und strukturellen Grundlagen unverändert bestehen. Historiker*innen wie Wolfgang Kraushaar betonen immer wieder, dass diese Kontinuitäten nicht nur historische Fußnoten sind, sondern aktiv die heutige Politik des VS prägen.

Agent Provocateur Peter Urbach

Über die nur zum Teil geklärte Rolle des V-Manns Peter Urbach des Verfassungsschutzes sagte der Historiker Wolfgang Kraushaar: [Er sei] „Das beste Beispiel für den geheimdienstlichen Einfluss auf die linksradikale Szene …“ [2]. in Westberlin Ende der 1960er. Urbach versorgte linke Aktivist*innen mit Molotowcocktails, Sprengstoff und bot sogar Workshops im Auto-Umkippen an. Staatsräson à la Erst Brandstiftung, dann löschen: Der Verfassungsschutz schuf die Gewalt, vor der er anschließend warnte …“ [3].

Der Verfassung das Bein gestellt: Wolfgang Kraushaar über VS-Interventionen

Wolfgang Kraushaar warnt: „Immer dann, wenn es darauf angekommen wäre … entschied man sich dafür, mit zweifelhaften bis vergifteten Argumenten der Verfassung in den Rücken zu fallen und so … Kontinuitätsbefürchtungen gegenüber der braunen Vergangenheit zu bestätigen“. Diese Aussage bezieht sich auf die Rolle des Verfassungsschutzes in der Bundesrepublik Deutschland und seine Verstrickung in die Entstehung und Unterstützung von terroristischen Gruppen wie der Roten Armee Fraktion (RAF). Kraushaar argumentiert, dass der Verfassungsschutz nicht nur versäumte, rechtzeitig gegen diese Gruppen vorzugehen, sondern sie teilweise sogar indirekt unterstützte, indem er sie mit Ressourcen ausstattete und Informationen lieferte. Dies führte dazu, dass der Verfassungsschutz nicht als Schutz der Verfassung, sondern als deren Bedrohung wahrgenommen wurde. [4].

Neue alte Disziplinierungspraktiken: Berufsverbote 2.0

Ein halbes Jahrhundert nach dem berüchtigten Radikalenerlass von 1972 feiert die staatliche Gesinnungsprüfung fröhliche Wiederauferstehung – diesmal in moderner, juristisch verpackter Form als „Verfassungstreueprüfung“. Das grundlegende Muster ist geblieben: Ziel ist nicht etwa die Sicherung der Demokratie, sondern die Disziplinierung von unten, insbesondere linker und kritischer Bewegungen, während rechte Netzwerke meist unbehelligt bleiben.

  • Bayern (2025): Die Klimaaktivistin Lisa Poettinger wurde das Lehramtsreferendariat verweigert. Offiziell begründet wurde dies mit „Zweifeln an der Verfassungstreue“ – ein schwammiger Vorwurf, der kaum überprüfbar ist und dem eine lange Tradition staatlicher Gesinnungskontrolle folgt [3]. Dabei spielte offenbar keine Rolle, dass Poettinger ausschließlich in außerparlamentarischen, friedlichen Bewegungen aktiv war. Historisch erinnert dies an die Praxis der 1970er-Jahre, als linke Lehrerinnen, Erzieherinnen und Journalist*innen systematisch aus dem Staatsdienst ausgeschlossen wurden, weil sie als „linksextremistisch“ eingestuft wurden. Die Kontinuität liegt auf der Hand: Der Apparat will nicht die Demokratie schützen, sondern die herrschende Ordnung stabilisieren. [5].
  • Rheinland-Pfalz: Parallel dazu arbeitet die Landesregierung an einer Regelung, die Berufsverbote unter dem Deckmantel „Schutz vor Rechts“ verschleiert. Formal sollen AfD-Mitglieder ausgeschlossen werden – faktisch geraten aber linke Gruppen wie DKP, Rote Hilfe oder Interventionistische Linke auf Beobachtungslisten. Das Ergebnis ist ein absurdes Paradoxon: Die Falschen werden kontrolliert, die eigentlichen Gefährder bleiben unbehelligt. Diese Praxis zeigt deutlich, dass das Hauptinteresse der Behörden nicht in der objektiven Gefahrenabwehr liegt, sondern in der sozialen und politischen Kontrolle von progressiven Bewegungen. [6]

Blind nach rechts – rechte Netzwerke im Apparat

Die Blindheit des Verfassungsschutzes gegenüber rechten Netzwerken ist kein Zufall, sondern Ausdruck struktureller Prioritäten. Während linke Bewegungen seit Jahrzehnten systematisch überwacht und kriminalisiert werden, konnten neonazistische Gruppen und später rechtsterroristische Netzwerke über Jahre unbehelligt agieren.

Der NSU-Komplex liefert das wohl drastischste Beispiel: Zwischen 2000 und 2006 ermordeten die Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe neun Menschen mit Migrationshintergrund. Die Ermittlungen konzentrierten sich zunächst auf die Opfer und deren Umfeld, während die Täterschaft aus der rechten Szene lange Zeit verschleiert wurde. Gleichzeitig vernichtete der Verfassungsschutz Akten, verschleierte V-Leute-Kontakte und behindert so systematisch die Aufklärung. Die Konsequenz: Das Vertrauen in die Institutionen der „Demokratie“ wurde massiv erschüttert. [7]

Doch nicht nur der NSU zeigt das Versagen. Rassistische Pogrome wie die Anschläge von Mölln (1992) oder Solingen (1993) wurden von Behörden und Öffentlichkeit oft als „soziale Probleme“ verharmlost, während die Täter häufig nur symbolisch verfolgt wurden. Die Verharmlosung rechter Gewalt zeigt die strukturelle Voreingenommenheit der Sicherheitsapparate: Linke Gewalt wird sofort kriminalisiert, rechte Gewalt oft ignoriert oder verharmlost.

Strukturelle rechte Netzwerke im Verfassungsschutz selbst verschärfen dieses Problem. V-Leute in Nazikreisen, Beamte, die in Prepper-Chats aktiv sind, oder Mitarbeiter*innen, die an extrem rechten Studienkreisen teilnehmen, tragen zur Förderung und Legitimierung rechtsextremer Ideologie bei. Statt konsequent gegen rechte Bedrohungen vorzugehen, werden Informationen gezielt abgeschwächt oder unterdrückt. In der Praxis bedeutet dies: Rechte Gewalt wird nicht nur toleriert, sie wird indirekt begünstigt.

Hans-Georg Maaßen, ehemaliger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, verkörpert diese Problematik exemplarisch. Während der Chemnitzer Ereignisse 2018 relativierte Maaßen offen rechte Gewalt und stellte die Opfer der rassistischen Mobilisierung indirekt in Frage. Dieses Verhalten wurde weithin als Sympathie gegenüber rechtsextremen Positionen interpretiert. Erst unter massivem öffentlichen Druck wurde Maaßen selbst als rechtsextrem in der Extremismus-Datei geführt [5-4]. Sein Fall illustriert, dass selbst die oberste Führungsebene des BfV nicht vor rechter Verharmlosung gefeit ist und dass strukturelle Fehlanreize im Apparat existieren, die rechte Ideologie begünstigen.

Scheindemokratie und Klassenherrschaft

Die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ (FDGO) ist kein neutrales Prinzip, sondern ein ideologisches Werkzeug, um revolutionäre oder linke Politik als „Extremismus“ zu brandmarken. Historisch diente sie vom KPD-Verbot bis zu den Berufsverboten der 1970er Jahre und auch wieder heute dazu, kritische Bewegungen auszuschalten, während konservative und rechte Kräfte oft ungestört agieren konnten.

Wer soziale oder ökonomische Strukturen infrage stellt, gilt schneller als Extremist, als er „Demokratieabgabe“ sagen kann. Die FDGO schützt also nicht die Demokratie, sondern bestehende Machtverhältnisse und dient als Filter, um unerwünschte Kritik zu unterdrücken.

Fazit: Abschaffen statt Reformieren

Die Chronik spricht: KPD-Verbot, Radikalenerlass, Berufsverbote 2.0, NSU, rechte Netzwerke im Apparat, Urbach, Maaßen, Odewald. Der Verfassungsschutz ist kein neutraler Wächter der Demokratie, sondern ein kapitalismussichernder Repressionsapparat, der linke Bewegungen kontrolliert und rechte Strukturen schützt.

Historische und personelle Kontinuitäten zeigen: Reformversuche sind illusorisch. Wer Demokratie ernsthaft schützen will, braucht den Verfassungsschutz nicht, sondern muss selbstorganisierte antifaschistische Strukturen aufbauen, die Solidarität, Klassenanalyse und Transparenz statt Geheimhaltung und Repression praktizieren.

Ironie des Schlusses: Der Verfassungsschutz schützt nicht die Demokratie – er schützt sie vor der Bevölkerung, vor jenen, die soziale Gerechtigkeit und echte Demokratisierung wollen.

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Fußnoten / Literatur

  1. Walter Odewald, Mitarbeiter mit braunen Flecken, TAZ, 29.1.2015 17:59 Uhr, Link
  2. Kraushaar, Wolfgang über Urbach, Die blinden Flecken der RAF, S. 112–115.
  3. Peter Urbach – V-Mann, der Waffen und Molotowcocktails verteilte, Workshops im Autos-Umkippen gab (Wikipedia).
  4. Kraushaar, Wolfgang: Lose Fäden – Staat und linke Bewegungen, Soziopolis, Zitat S. 23.
  5. Lisa Poettinger Lehramtsreferendariat verweigert, GEW Bayern: Politisch motivierte Berufsverbote weisen wir entschieden zurück! 29.01.2025, Link.
  6. Radikalenerlass 2.0 – Riecht nach Berufsverbot, Von Niki Uhlmann, Junge Welt, 17.07.2025, Link
  1. Vertrauensschutz und Staatswohl? Grenzen der juristischen Aufarbeitung im NSU-Komplex, BpB, 08.09.2023, Link
  2. Hans-Georg Maaßen – Verfassungsschutz soll Hans-Georg Maaßen als Rechtsextremisten führen, 31. Januar 2024, 17:41 Uhr, DIE ZEIT, Link

Autor: Ian Nadge

Hinweis: Dieser Beitrag stellt die Meinung der Autor*in dar und muss nicht mit den Positionen der AKL Niedersachsen übereinstimmen.

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