Ein Beitrag von Ivan Neklidny
Andrej Babiš und das populistische Theater der neuen Bourgeoisie
Am Beispiel der tschechischen Parlamentswahlen 2025 zeigt dieser Artikel die Dialektik zwischen neoliberaler Entdemokratisierung und populistischer Refeudalisierung auf. Irgendwo zwischen Marx’ Theorie des Fetischcharakters, Poulantzas’ Analyse des autoritären Etatismus und Gramscis Konzept der passiven Revolution sucht dieser Artikel nach Antworten. Wie kann der Milliardär Andrej Babiš als organischer Intellektueller des Kapitals auftreten, während die tschechische Linke zwischen musealer Nostalgie (KSČM) und prekärem Idealismus (Strana Levice) zerrieben wird. Das Ergebnis: eine postsozialistische Farce in sechs Akten – aufgeführt von Kapital, applaudiert vom Volk, subventioniert durch die EU.
1. Der Milliardär als Volkstribun
Der populistische Milliardär Andrej Babiš hat die Parlamentswahlen 2025 in der Tschechischen Republik gewonnen – und damit bewiesen, dass die Bourgeoisie heute auch ohne liberales Vokabular herrschen kann. [1]
Seine Partei ANO erhielt 35 % der Stimmen, die pro-westliche Koalition des Premierministers Petr Fiala 23 %. Zwei Fraktionen des Kapitals kämpfen um die Hegemonie: die globalisierte und die nationale. Die eine exportiert Mehrwert, die andere seine Ideologie.
Babiš’ Versprechen – höhere Löhne, niedrigere Steuern, Sozialgeschenke – ist populistischer Keynesianismus ohne Klassenanalyse: eine sentimentale Verwaltung der Krise.² Er spielt den Philanthropen im Maßanzug, ein Bourgeois, der den Klassenkampf als PR-Kampagne outsourct. Das „Volk“ darf jubeln, solange es konsumiert.
2. Die Koalition der Motoristen
Da die ANO keine absolute Mehrheit errang, sucht Babiš den Schulterschluss mit der rechtsradikalen SPD (7,9 %) und der Bewegung der „Motoristen“ (6,8 %) – eine bizarre Allianz aus Autonationalisten und Kleinkapitalist*innen. Hier verdichtet sich, was Poulantzas „autoritären Etatismus“³ nannte: die demokratische Form bleibt, die soziale Substanz verdampft.
Der neue Block aus rechtspopulsitischen SPD, nationalistischen Motorist*innen und ANO repräsentiert den reaktionären Petit-Bourgeois, der den Sozialstaat nostalgisch beschwört, aber von dessen Abschaffung lebt. Sie wollen „Souveränität“ – gemeint ist die Freiheit des Kapitals, wieder im eigenen Hinterhof zu herrschen.
3. Das Ende der Solidarität – oder ihr Anfang?
Mit Babiš’ Sieg droht die Abkehr von der Ukraine-Unterstützung. Der mediale Aufschrei über „pro-russische Tendenzen“ verdeckt die eigentliche Logik: Solidarität ist im Kapitalismus kein moralisches Prinzip, sondern ein Investitionsmodell. Waffenlieferungen gelten als humanitär, solange sie profitabel bleiben.
Die tschechische Arbeiter*innenklasse wird mit Nationalpathos gefüttert, während sich die Bourgeoisie der geopolitischen Opportunität hingibt. Wie Marx schrieb:
*„Die Ideen der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Ideen.“*⁴
Und sie heißen derzeit: Standort, Sicherheit, Souveränität – nicht Sozialismus.
4. Die EU zwischen Dekarbonisierung und Dekapitalisierung
In Brüssel herrscht Alarmstufe Rot. Babiš, Orbán und Fico formieren eine reaktionäre Internationale, die sich offen gegen die Dekarbonisierung wendet. Die Liberalen nennen das „Rückschritt“, doch in Wahrheit ist es die ehrlichere Form kapitalistischer Rationalität.
Die EU feiert ihr Green Deal-Kapital, während Babiš und Co. schlicht sagen: Wir wollen Wachstum – ohne die Farbe. Das ist der alte Kapitalismus, aber ohne das schlechte Gewissen.
Gramsci hätte es wohl als „passive Revolution“⁵ bezeichnet: das Regime verändert seine Oberfläche, um seine Struktur zu bewahren. Das Kapital grün zu streichen ist heute die Lieblingsfarbe der Konterrevolution.
5. Die Linke im Spiegel der Geschichte: KSČM als Fossil, Levice als Symptom
Wo die Bourgeoisie triumphiert, versagt meist ihre Opposition. Die Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM) hat ihren historischen Auftrag längst in Nostalgie umgewandelt. Sie spricht von Sozialismus, meint aber Nationalinteresse. Ihre Sprache riecht nach Parteischulstaub, ihre Praxis nach Verwaltung der Vergangenheit.
Statt Klassenbewusstsein produziert sie melancholischen Patriotismus. Der Feind ist nicht das Kapital, sondern die Zeit. Man könnte sagen: Die KSČM hat Marx behalten, aber die Dialektik vergessen.
Ganz anders, wenn auch marginal: die Strana Levice. Klein, prekarisiert, fast unsichtbar – aber wenigstens analytisch lebendig. Ihre Ansätze zu feministischer Klassenpolitik und ökologischer Ökonomie erinnern an Federicis Einsicht, dass jede Revolution auch eine Reproduktion der Körper bedeutet.⁶
Levice ist, was bleibt, wenn die alte Linke stirbt und die neue noch nicht geboren ist – die Zwischenfigur des historischen Übergangs, zugleich Symptom und Möglichkeit. Ihre Schwäche ist real, aber historisch bedingt; ihre Existenz ist bereits Widerstand gegen die politische Fossilisierung.
6. Klassenkampf oder Kapitalvariation
Was bleibt, ist ein Land, das von einem Milliardär regiert wird, der sich als Volksheld inszeniert; eine EU, die zwischen moralischer Heuchelei und ökonomischem Zynismus schwankt; und eine Linke, die zwischen Frühschoppen und Friedhof pendelt.
Doch jede Krise enthält den Keim der Bewegung. Die kapitalistische Demokratie, die sich im Babišismus offenbart, ist nicht das Ende, sondern nur eine Zwischenform der Klassendiktatur.
Wie Luxemburg warnte:
*„Wer sich in der Revolution auf den Boden der Legalität stellt, der hat sie schon verloren.“*⁷
Vielleicht ist es also an der Zeit, dass die Linke – nicht nostalgisch, sondern materialistisch – begreift, dass ihre Niederlage nur dann endgültig ist, wenn sie aufhört, sie zu analysieren.
Oder, um Marx zu variieren:
„Die Geschichte wiederholt sich – das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Talkshow.“
Fußnoten
- Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, Berlin 1962, S. 90 ff.
- Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution, in: GW 1, Berlin 1970.
- Nicos Poulantzas, Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus, Hamburg 1978.
- Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 46.
- Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Bd. 6, Hamburg 1991.
- Silvia Federici, Caliban and the Witch. Women, the Body and Primitive Accumulation, New York 2004.
- Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution, GW 4, Berlin 1974.
Hinweis: Dieser Beitrag stellt die Meinung der Autor*in dar und muss nicht mit den Positionen der AKL Niedersachsen übereinstimmen.

