Polarisierung als ideologisches Deutungsmuster im Kapitalismus

Vor kurzem wurde ich gefragt, was ich eigentlich zur sogenannten „Polarisierung“ der Gesellschaft zu sagen hätte. Meine Antwort zielte sowohl auf die diffusen Ängste vieler Bürger*innen, als auch auf jene, die dem politischen Framing von rechts auf den Leim gegangen sind. Ich sprach von persönlichen Problemen, die sich in rechten Feindbildern kompensieren, von Ressentiments, die als Ventil für alltägliche soziale Nöte dienen. Das alles ist richtig – aber eben nur die halbe Wahrheit. Polarisierung hat, wie der Begriff schon sagt, zwei Pole.

„Warum dreht sich der Diskurs fast immer um Rechtspopulismus?“
Wenn vom Diskurs über gesellschaftliche Polarisierung die Rede ist, geht es zumeist um rechtspopulistische Äußerungen. Warum? Weil der Rechtspopulismus mit seinen simplifizierenden Feindbildern und aggressiven Vereinfachungen die gesellschaftlichen Konflikte besonders scharf zuspitzt. Er fungiert als Brennglas, das Ängste und Frustrationen bündelt – und so die politische Debatte beherrscht. Linke Ideen hingegen werden in der Polarisierungsdebatte häufig marginalisiert oder gar nicht genannt, weil sie die grundlegenden Klassenverhältnisse und die kapitalistische Eigentumsordnung infrage stellen – damit aber die Interessen der herrschenden Klasse und des politischen Establishments herausfordern.

Dabei wird die gesellschaftliche Polarisierung oft mit der sogenannten „Hufeisenthese“ erklärt, die suggeriert, dass Extreme von links und rechts sich einander annähern und quasi gleichwertig in ihrer Berdrohung für unsere Freiheit seien. Diese Theorie erklärt jedoch die Unterschiede nicht wirklich, denn sie nivelliert die fundamentalen Unterschiede zwischen emanzipatorischer, antikapitalistischer linker Ideen und reaktionärem, autoritärem Rechtspopulismus. Während Rechte bestehende Machtverhältnisse verteidigen und verschärfen, streben linke Bewegungen eine Überwindung dieser Herrschaftsstrukturen an. Die Hufeisenthese dient damit vor allem der Relativierung rechter Gefahren und trägt zur Verharmlosung von Rechtsextremismus bei.

„Wer redet uns eigentlich ein, Polarisierung zu vermeiden?“

Spannender als die Frage, wie gespalten wir sind, ist daher die Frage, wer uns und vor allem mit welcher Motivation einredet, Polarisierung müsse um jeden Preis vermieden werden. Dieser Appell dient als ideologisches Vehikel, um den sozialen Frieden zu wahren – aber eben nicht den Frieden der Unterdrückten, sondern den der herrschenden Klasse. Er tarnt und entschärft die tatsächlichen Klassenantagonismen, indem er Konflikte auf symbolische Ebenen verlagert und so das gesellschaftliche „Wir“ beschwört.

„Zwischen Gefühl und empirischer Realität“

Tatsächlich ist die Rede von einer „Spaltung der Gesellschaft“ in den letzten Jahren allgegenwärtig. Politiker*innen warnen, Medien dramatisieren, Talkshows inszenieren das Bild eines zerrissenen Kollektivs. Doch empirische Untersuchungen, etwa aus dem ALLBUS oder European Social Survey, zeigen eine erstaunliche Stabilität der Einstellungen der Bevölkerung in zentralen sozialen und politischen Fragen seit über zwanzig Jahren. 1 Die Diskrepanz zwischen gefühlter und messbarer Polarisierung ist groß – und sie ist kein Zufall. Vielmehr handelt es sich um ein ideologisches Konstrukt, das dazu dient, die bestehenden Verhältnisse zu stabilisieren.

„Konflikt ist Programm“

Nils C. Kumkar stellt in seiner jüngsten Arbeit Polarisierung (2025) zutreffend fest, dass Polarisierung im politischen System selbst verankert ist. Das parlamentarische Gefüge, das auf dem Gegensatz von Regierung und Opposition beruht, lebt vom inszenierten Konflikt. 2 Wie Karl Marx schon im 18. Brumaire formulierte: Die politische Form ist „die Form, worin die ökonomischen Lebensbedingungen der Klassen ihren Kampf führen“ 3. Die bürgerliche Demokratie kanalisiert gesellschaftliche Gegensätze so, dass die Eigentumsordnung unangetastet bleibt. Polarisierung ist also keine Anomalie, sondern Ausdruck der neoliberalen Herrschaftsordung im politischen Alltag.

„Vom Klassenkampf zur Kulturauseinandersetzung“

Die hegemoniale Rhetorik vom „gesellschaftlichen Spaltungsrisiko“ verschiebt den Kernkonflikt von der ökonomischen Basis in den kulturellen Überbau. Antonio Gramsci hat darauf hingewiesen, dass Hegemonie auf Konsens basiert, der über kulturelle und ideologische Praxis hergestellt wird. 4 Der Diskurs über Polarisierung stellt Konflikte auf symbolische Ebenen – Identität, Sprache, Moral –, die scheinbar jeden betreffen, aber von der eigentlichen Frage des Klassenkonfliktes ablenken.

„Die Illusion der Harmonie“

Der Diskurs inszeniert Konflikt als Ausnahme und Harmonie als Idealzustand. Er appelliert an das „Wir“, fordert „Mitte“ und „Vermittlung“ ein, ohne zu fragen, wessen Interessen damit geschützt werden. So werden gesellschaftliche Konflikte verharmlost, fragmentiert und politisch neutralisiert. Diese Strategie schützt die herrschende Klasse vor einer politisierten, organisierten Opposition.

„Der Staat als Instrument der Klassenherrschaft“

Nicos Poulantzas zeigte eindrücklich, dass der Staat nicht über den Klassen steht, sondern „materiell verdichteter Ausdruck eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen“ ist 5. Die grundlegende Polarisierung verläuft zwischen Eigentümer*innen der Produktionsmittel und der lohnarbeitenden Mehrheitsgesellschaft. Diese antagonistische Spaltung ist nicht nur unvermeidlich, sondern notwendige Bedingung für die kapitalistische Reproduktion.

„Verdeckung durch moralische Rhetorik“

Die bürgerliche Gesellschaft ist daher bemüht, diesen Klassenantagonismus unsichtbar zu machen. Der Polarisierungsdiskurs tut genau dies: Er maskiert die strukturelle Spaltung durch die Fokussierung auf symbolische Konflikte und stellt moralische Konfliktregeln in den Vordergrund.

„Polarisierung – Problem oder Chance?“

Aus bürgerlicher Perspektive ist Polarisierung ein Problem, das mensch glätten muss. Aus marxistischer Sicht hingegen ist sie Ausdruck eines sich immer weiter zuspitzenden Klassenkampfes. Antonio Gramsci nannte diesen Zustand „organische Krise“ 6 – die Phase, in der die herrschende Klasse ihre ideologische Führung verliert und die Beherrschten anfangen, neue Formen der politischen Praxis zu suchen.

„Polarisierung als Motor gesellschaftlicher Veränderung“

Produktiv ist Polarisierung dann, wenn sie den sozialen Konflikt nicht verschleiert, sondern sichtbar und politisch wirksam macht. Linke Politik muss daher nicht darum bemüht sein, den Konflikt zu neutralisieren, sondern ihn zuzuspitzen, um den hegemonialen Block zu erschüttern und eine neue gesellschaftliche Ordnung zu ermöglichen.

Fazit

Die Debatte über Polarisierung ist mehr als ein Reflex auf gesellschaftliche Tatsachen: Sie ist ein politisches Instrument, um die sozialen Widersprüche im Kapitalismus unsichtbar zu machen und Konflikte zu regulieren. Wer diese Debatte ernsthaft verstehen will, muss fragen: Wessen Interessen schützt der Appell zur Vermeidung von Polarisierung? Wer definiert die Grenzen des Sagbaren? Und wem nützt die Aufrechterhaltung dieser Diskurse?

Marx, Gramsci und Poulantzas liefern uns die theoretischen Werkzeuge, um Polarisierung nicht als „Problem“ zu verharmlosen, sondern als Ausdruck und Möglichkeit des Klassenkampfes zu begreifen. Die Antwort auf gesellschaftliche Spaltung kann nicht deren Vermeidung sein, sondern deren politische Zuspitzung. Nur so kann der Keim radikaler gesellschaftlicher Veränderung keimen.

Fußnoten

  1. Vgl. GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften: ALLBUS – Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, diverse Jahrgänge; European Social Survey, diverse Jahrgänge.
  2. Nils C. Kumkar: Polarisierung, Berlin 2025
  3. Karl Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. In: MEW Bd. 8, Berlin 1960, S. 116.
  4. Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6, Hamburg 1991, S. 150 ff.
  5. Nicos Poulantzas: Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg 2002 [1978], S. 154.
  6. Antonio Gramsci: Gefängnishefte, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 8, Hamburg 1996, S. 236 ff.

Autor: Ian Nadge

Hinweis: Dieser Beitrag stellt die Meinung der Autor*in dar und muss nicht mit den Positionen der AKL Niedersachsen übereinstimmen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert