Mit Zwangsjacke gegen Dissens – Die neue Sicherheitsfantasie des niedersächsischen Sozialministers

Willkommen in Niedersachsen, wo Fortschritt bedeutet, Grundrechte zu schleifen – für die Sicherheit natürlich. Nach vereinzelten tragischen Vorfällen mit psychisch erkrankten Menschen wittert Sozialminister Andreas Philippi (SPD) seine Stunde: Ein schärferes Psychiatriegesetz muss her! Schließlich soll der Staat wissen, was in den Köpfen seiner Bürger*innen vorgeht – besonders wenn diese nicht „funktionieren“, nicht „mitspielen“ im kapitalistischen Alltag.

Unter dem Deckmantel der „Sicherheit“ wird nun diskutiert, Patientendaten leichter den Sicherheitsbehörden zugänglich zu machen. Was klingt wie ein dystopisches Plot-Element aus einem billigen Cyberpunk-Roman, ist die neue Realität sozialdemokratischer Fürsorgepolitik. Das Vertrauen zwischen Patient*in und Therapeut*in wird als eine zu vernachlässigende Größe  abgetan, schließlich geht es um größere Sachen: die Aufrechterhaltung der Ordnung. Also jener Ordnung, in der Menschen kaputt gemacht werden und dann als Gefahr gelten, wenn sie sich nicht leise behandeln lassen.

Wir erleben hier den altbekannten Reflex des bürgerlichen Staates: Statt über Ursachen zu reden – Armut, Wohnungsnot, Leistungsdruck, soziale Isolation – wird lieber auf Symptome eingedroschen. Psychisch Erkrankte dienen dabei als perfekter Sündenbock. Sie sind schwer zu fassen, schwer zu verstehen – also muss man sie katalogisieren, überwachen und verwalten. Am besten gleich mit einem Barcode im Nacken.

Ironischerweise kommt dieser Ruf nach mehr Kontrolle von einer Partei, die sich einst als Hüterin des Sozialen verstand. Die SPD: einst mit der Faust erhoben, heute mit dem Überwachungsantrag in der Hand. Philippi gibt sich fürsorglich, doch sein Fürsorgeverständnis riecht verdächtig nach autoritärer Hygienephantasie. Wer nicht „gesund“ im Sinne der Verwertbarkeit ist, wird zum Sicherheitsrisiko umetikettiert.

Was hier passiert, ist nichts weniger als ein Angriff auf die ohnehin prekäre Autonomie psychisch erkrankter Menschen. Ihre Krankheit wird nicht als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen, sondern als potentielle Bedrohung – nicht heilungsbedürftig, sondern sicherheitsrelevant. So werden nicht nur Menschenrechte verletzt, sondern auch das medizinische System untergraben: aus heilender Beziehung wird staatlich zertifizierte Denunziation.

Und was folgt als Nächstes? Ein zentrales Verzeichnis verdächtiger Gedanken? Predictive Policing für psychische Krisen? Vielleicht ein „MoodScore“, den man beim Betreten öffentlicher Gebäude scannen lassen muss?

Die Verschärfung des Psychiatriegesetzes reiht sich ein in eine lange Liste staatlicher Repressionen gegen all jene, die nicht ins neoliberale Raster passen. Wer sich dem kapitalistischen Leistungszwang nicht unterordnen kann – oder will – wird nicht unterstützt, sondern pathologisiert und überwacht.

Doch wer die Sicherheit in den Mittelpunkt stellt, verliert schnell den Menschen aus dem Blick. Und wer Patientendaten zur Waffe des Staates macht, darf sich nicht wundern, wenn irgendwann niemand mehr den Mut hat, Hilfe zu suchen.

Die Antwort auf psychische Krisen darf nicht Kontrolle sein. Die Antwort muss Solidarität heißen, Teilhabe, radikale Veränderung der Verhältnisse. Oder – um es mit leichter Ironie zu sagen: Vielleicht sollte sich der Minister selbst mal auf die Couch legen. Nicht zur Beobachtung, sondern zur Reflexion.

Denn wer im Namen der Sicherheit Grundrechte zerlegt, sollte sich fragen, ob er nicht selbst Teil des Problems ist.

Autor: Ian Nadge

Hinweis: Dieser Beitrag stellt die Meinung der Autor*in dar und muss nicht mit den Positionen der AKL Niedersachsen übereinstimmen.

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